Dem Jugendmagazin „Young Struggle“ http://www.young-struggle.org ist es zu verdanken, dass das Selbstbestimmungsrecht (bis hin zum Recht auf Lostrennung) der Kurden auf marxistisch-leninistischer Grundlage gegen die sozialchauvinistische Linie der SIP-TKP theoretisch verteidigt wurde. Diese Linie wird in der BRD u.a. auch von Kräften wie der Kommunistischen Organisation (KO) vertreten, die dabei aber nichts anderes als der Lautsprecher der „Argumente“ der SIP-TKP sind. Ein Beispiel für deren Argumentation ist der Artikel „Das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die kurdische Frage“ von Tom Hensgen https://kommunistische.org/diskussion/das-selbstbestimmungsrecht-der-voelker-und-die-kurdische-frage/ In diesem Artikel wird gleich zu Beginn in Frage gestellt, ob es eine kurdische Nation überhaupt gibt: „Es ist umstritten, ob es ein kurdisches Volk und eine kurdische Sprache gibt oder ob mehrere kurdische Völker und mehrere kurdische Sprachen existieren. Gleichzeitig ist es ungeklärt, ob die Kurden eine eigenständige Nation sind. Es gibt die These, dass die Kurden (sowie andere Völker auch) in der Türkei seit der Gründung der Republik und der Entstehung der türkischen Nation ein Teil der türkischen Nation sind.“ Diesen sozialchauvinistischen Müll entsorgt zu haben, ist das Verdienst von Young Struggle, deren Artikel „Imperialistischer Ökonomismus im 21. Jahrhundert. Die Karikatur auf den Marxismus am Beispiel der kurdischen Frage“ im Folgenden abgedruckt wird. Weitere gute Argumente in dieser Diskussion liefern: Die Lehren der Klassiker Lenin und Stalin zur nationalen und kolonialen Frage werden sehr gut im „Leninismus-Heft 6. Die nationale und koloniale Frage“ (Moskau, 1935 und einige Nachdrucke) dargestellt. Ismail Besikci, Kurdistan. Internationale Kolonie, Köln, o.J. und Ibrahim Kaypakkaya, Die Kurdenfrage in der Türkei, Augsburg, 1991 vertiefen auf Grundlage der Lehren der Klassiker das richtige Verständnis der Frage der kurdischen Nation und deren nationalem Befreiungskampf .
„Imperialistischer Ökonomismus“ im 21. Jahrhundert: Die Karikatur auf den Marxismus am Beispiel der kurdischen Frage
Gastbeitrag von Deniz Boran
„Lohnt es, soviel Aufhebens davon zu machen, daß wir den Marxismus in „Ökonomismus“ verfälscht und aus unserer Politik eine Wiederhholung der Reden echt-russischer Chauvinisten gemacht haben?“
Lenin, Über eine Karikatur auf den Marxismus
Warum eine weitere Polemik?
Tom Hensgen hat in seinem Das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die kurdische Frage [1] die nationale Frage, die leninistische Herangehensweise an die Frage und die Haltung von verschiedenen Organisationen der revolutionären und kommunistischen Bewegung diskutiert.
Als Young Struggle vor jetzt fast zwei Jahren den Artikel Solidarität mit Rojava: Abschließende Polemiken zum Anfang des Krieges veröffentlichte, hatte sie auch das Ziel, die Kommunistische Organisation (KO) dazu zu bringen, ihre Herangehensweise an die nationale – insbesondere die kurdische Frage – zu hinterfragen.
Vor allem war und ist uns dieses Thema aber wichtig – und deswegen wurde diese Polemik auch verfasst – da sie nicht nur eine Sache der kurdischen Frage ist. Genauso wie auch Hensgen argumentiert deutet der Standpunkt bei der Frage auf breitere Probleme und Mängel – gar Symptome der Krise – der kommunistischen Bewegung hin. Wir unterscheiden uns aber bei der Bewertung welche Seite der Polemik die Krise überwindet und welche die Krise reproduziert.
An dieser Stelle möchten wir kurz einschieben, dass „polemische“ Texte nicht automatisch „unsachlich“ und „nicht-argumentativ“ sind – so wie es im Artikel dargestellt wird. Natürlich wollen auch wir eine argumentative Diskussion, aber die Geschichte und Tradition der Linienentwicklung des Marxismus ist voll mit Polemiken. Der Artikel von Hensgen ist selbst auch eine Polemik – eine durchaus polarisierende zugleich.
Obwohl Hensgens Ausarbeitung Ausgangspunkt dieser Polemik ist, sollte sie als eine Offenlegung der Linie (der TKP) als „imperialistischer Ökonomismus“ begriffen und diskutiert werden.
Denn,
„Der Sieg des Marxismus in der revolutionären Bewegung zu Beginn der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts war begleitet von einer Karikatur auf den Marxismus in Gestalt des damaligen „Ökonomismus“ oder des „Streikismus“, und die „Iskristen“ hätten die Grundlagen der proletarischen Theorie und Politik weder gegen die kleinbürgerliche Volkstümlerrichtung noch gegen den bürgerlichen Liberalismus erfolgreich verteidigen können, wenn sie den „Ökonomismus“ nicht lange Jahre hindurch bekämpft hätten.“ [2]
Die Grundlagen der proletarischen revolutionären Theorie und Politik weiterentwickeln und auf den heutigen Stand heben bedeutet eben vor allem den „Ökonomismus“ und die daraus resultierende ideologische Abweichung, allem voran den „Sozialchauvinismus“, ideologisch zu bekämpfen.
Die Methode
Und der erste Satz nach der Einleitung legt die Richtung des Artikels offen:
„Es ist umstritten, ob es ein kurdisches Volk und eine kurdische Sprache gibt oder ob mehrere kurdische Völker und mehrere kurdische Sprachen existieren. Gleichzeitig ist es ungeklärt, ob die Kurden eine eigenständige Nation sind. Es gibt die These, dass die Kurden (sowie andere Völker auch) in der Türkei seit der Gründung der Republik und der Entstehung der türkischen Nation ein Teil der türkischen Nation sind. Verteidiger dieser These gehen teilweise davon aus, dass es im Laufe der Zeit nie zu einer Herausbildung einer eigenständigen kurdischen Nation kam […] Die verschiedenen Definitionen dazu und die Debatte darum möchte ich jedoch ausklammern und die Annahme treffen, dass es eine/mehrere kurdische Nationen gebe.“ (Hensgen)
Hensgen hat Recht, wenn er sagt, dass es solche Thesen gibt. Fraglich ist nur, von welchen Kreisen diese Thesen herangeführt werden. Hensgen kann seinen Text nicht damit beginnen, das „Volksein“ der Kurd:innen in Frage zu stellen und dies zu einer „Annahme“ herunterzustufen. Marxist:innen arbeiten nicht mit „Annahmen“ und diese Frage lässt auch keinen so großen Diskussionsraum zu. Die wenigen, die dies in Frage stellen sind „Linke“, die im Paradigma der offiziellen Ideologie des türkischen Staates gefangen sind. Sei es auch drum; wenn Hensgen mit einer solchen strukturellen Hinterfragung anfängt, muss er die Frage auch zu Ende denken und das Problem lösen.
Aber genau weil Hensgen Fragen nicht zu Ende denkt, entsteht keine innere Logik in seiner Polemik. Er hätte es viel einfacher, wenn er den Kurd:innen ihr „Nationsein“ absprechen könnte. Dann bräuchte er gar nicht Lenin und Stalin in eine solch eklektizistische Form zu biegen und brechen. Hensgen scheut sich davor, die Frage zu Ende zu denken. Denn wenn er seine Diskussion hier vertiefen würde, würde er jegliche Glaubhaftigkeit verlieren. Diese „Annahme“ ist also keine argumentative und sachliche (Hensgen ist nicht überzeugt!), sondern dient als „Zugeständnis“ / taktische „Annahme“, um die Polemik führen zu können. Um den Schwerpunkt der Diskussion nicht zu verschieben, wollen wir an dieser Stelle nicht weiter vertiefen.
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Hensgen bedient sich zahlreicher methodischer Mittel, um einen „finalen Ausdruck“ zu schaffen. Dazu führt er auch eine Fülle von Zitaten und Beispielen an. Nur sind diese willkürlich und eklektizistisch zusammengewürfelt. Marxistische Theorie wird ausgearbeitet, um sie zu einem Fundament des politischen Kampfes zu machen.
„Damit es wirklich ein Fundament wird, kommt es darauf an, nicht einzelne Tatsachen herauszugreifen, sondern den Gesamtkomplex der auf die betreffende Frage bezüglichen Tatsachen zu betrachten, ohne eine einzige Ausnahme, denn sonst taucht unvermeidlich der Verdacht, und zwar der völlig berechtigte Verdacht auf, daß die Tatsachen willkürlich ausgewählt oder zusammengestellt sind, daß nicht der objektive Zusammenhang und die objektive wechselseitige Abhängigkeit der historischen Erscheinungen in ihrer Gesamtheit dargestellt werden, sondern daß es sich um ein „subjektives“ Machwerk zur Rechtfertigung einer vielleicht schmutzigen Sache handelt. Das kommt vor . . . und häufiger, als man denkt.“ [3]