Alfred Klahr und Ibrahim Kaypakkaya – die „Bedeutung der nationalen Frage“ (Lenin) – oder stehen wir demgegenüber vor einer Roy-Lenin-Kontroverse 2.0?
Immer wieder wachsen in der Geschichte KommunistInnen und RevolutionärInnen an ihren Aufgaben zu herausragenden Persönlichkeiten und legen theoretische Einsichten für den weiteren Kampf.
Dabei entspannen sich vielfach auch Parallelen, die sich bis ins Biographische erstrecken. Das gilt nicht zuletzt etwa für die Lebenswege und Denkeinsätze des bedeutenden österreichischen Kommunisten Alfred Klahr und des nicht minder einflussreichen türkischen Revolutionärs Ibrahim Kaypakkaya.
Biographische Parallelen und Schicksalswege
Beide zeichnet neben ihrem unbeugsamen Kampf insbesondere auch ihre theoretischen Anstrengungen und Leistungen um die nationale Frage, sowie die strategische, dialektische Verbindung der nationalen mit der sozialen Frage und sozialistischen Revolution aus.
Alfred Klahr wurde 1904, Ibrahim Kaypakkaya 1949 geboren. Beide entwickelten schon in jungen Jahren ein sozialistisches Bewusstsein. Alfred Klahr in der Zeit des Ersten Weltkriegs und der von Hunger und Not geprägten Nachkriegszeit. Ibrahim Kaypakkaya vor dem Hintergrund der Dorfarmut, des sozialen Elends und der Unterdrückung in der Türkei. Ebenso schlugen beide nach absolvierter Grundschule zunächst einen höheren Bildungsweg ein: Klahr studierte in Wien Staatswissenschaft, Kaypakkaya besuchte die Lehrer-Schule in Istanbul, die ihn aufgrund seiner politischen Aktivitäten jedoch vor die Tür setzte.
Und wie Klahrs, von Georgi Dimitroff unterstützen, gegen die großdeutsche Tradition der heimischen Arbeiterbewegung gerichteten Theoretisierungen und Begründung der österreichischen Nation später über die engen Parteigrenzen der KPÖ hinaus wirksam wurden, gilt dies hinsichtlich des nationalen Status der KurdInnen ideengeschichtlich ähnlich für den einflussreichen linken Revolutionär, Theoretiker, Kämpfer und Begründer der Partizanen-Tradition Ibrahim Kaypakkaya. Seine Ideen und Auffassung führten sowohl zu einer eigenen Theorietradition und Bewegung, übten aber auch darüber hinaus großen Einfluss auf andere Strömungen in der revolutionären türkischen und kurdischen Linken aus.
Ähnlich wiederum ebenso wie eine Generation vor ihm große Persönlichkeiten der kommunistischen Bewegung in Österreich Anfang/Mitte der 20er Jahre – unter dem Eindruck der siegreichen Oktoberrevolution und von der jungen Sowjetunion ausgehenden Aufbruchsstimmung – bereits in den Jugend- und Studentenzusammenhängen Wiens wirkmächtig aktiv wurden, stand Kaypakkaya in den Jahren 1966-1968 – inspiriert vom weltgeschichtlichen Ereignis der Kulturrevolution in China – im Zentrum der regen und revolutionären studentischen Bewegung in der Türkei.
Schon in dieser Zeit als Revolutionär polizeilich überwacht und bespitzelt, wurde Alfred Klahr durch das Verbot der Kommunistischen Partei Österreichs 1933 und die Machtergreifung des Austrofaschismus 1934 in die Illegalität gezwungen. Ähnlich die Verhängung des Ausnahmezustands 1970 und der Militärputsch 1971, die am Bosporus dann vier Jahrzehnte später Ibrahim Kaypakkaya in den Untergrund zwangen.
In ihrer illegalen Tätigkeit machten sie sich unter schwierigsten und mörderischen Bedingungen je um das Schmieden illegaler Kampforganisationen, der Entfachung des Widerstands der Werktätigen und um die Herausgabe von Flugblättern wie Zeitschriften verdient. Und nahmen jeweils eine wahrhafte Odyssee auf sich.
Eine Odyssee die Alfred Klar etwa über Berlin, zurück nach Wien, dann nach Prag, und über Moskau, Brüssel, Marseille bis nach Zürich führte. In Zürich aufgeflogen, lieferten ihn die Schweizer Behörden an das mit dem Nazi-Faschismus verbündete faschistische, französische Vichy-Regime aus. 1942 wurde Alfred Klahr schließlich in das Konzentrationslager Auschwitz deponiert.
Fast genau drei Jahrzehnte danach, 1973, fiel auch Kaypakkaya seinen Schergen in die Hände, wurde von Militär-Sondereinheiten in den Bergen Dersims gestellt und in Haft gesteckt. Bestialisch gefoltert wurde Ibrahim Kaypakkaya am 18. Mai 1973 im Auftrag der Herrschenden schlussendlich ermordet.
Alfred Klahr gelang im Sommer 1944 mit Unterstützung des Internationalen Lagerkomitees in Auschwitz nochmals die Flucht aus dem Konzentrationslager. Er schaffte es allerdings nicht zum vereinbarten Treffpunkt mit den polnischen Partisanen (die drei Tage auf ihn warteten) und schlug sich daraufhin auf eigene Faust nach Warschau durch. In Warschau fiel er jedoch einer deutschen Streife in die Hände, die ihn aufgriff und erschoss.
Der Vergleich ihrer Lebenswege und Martyria heißt natürlich, um nicht missverstanden zu werden, nicht, die Lage im Nazi-Faschismus mit der Situation in der Türkei Anfang der 1970er Jahre einfach in eins zu setzen, sondern das Vergleichbare herauszuschälen.
Die nationale Frage und das Unverständnis der großdeutschen und kemalistischen Traditionen in der Arbeiterbewegung
Während Ibrahim Kaypakkaya, gestützt auf die marxistisch-leninistische Theorie der Nation in seinen Beschäftigungen mit der nationalen Frage die Existenz der kurdischen Nation erkannte und bejahte, erkannte der österreichische Kommunist Alfred Klahr knapp vier Jahrzehnte zuvor – unter anderen gesellschaftlichen Verhältnisse und in unterschiedener politischen Lage – die Existenz der österreichischen Nation.
Beide stießen dabei zunächst auf viel Unverständnis unter den Genossen und Genossinnen. Zu schwer lastete zunächst die großdeutsche Ideologie in Österreich und die kemalistische Ideologie in der Türkei auf den Gehirnen vieler.
Gleichwohl: Klahrs kritische Überprüfung der damals dominierenden „Selbstverständlichkeit“, dass Österreicher bei aller Eigenart letzten Endes doch zur deutschen Nation gehören, ergab etwas anderes. Er wies vielmehr nach, dass die ÖsterreicherInnen nie Teil der deutschen Nation waren, ja dass Österreich gerade zum Zeitpunkt der Formierung der deutschen Nation faktisch aus dem Deutschen Reich ausgeschlossen war.
Und er erkannte, dass Österreich sich damals vielmehr zu einer eigenständigen Nation formierte, gleichsam – ähnlich der Entwicklung von Klassen aus ihrem anfänglichen Stadium eines zunächst „an sich“ hin zu ihrem Erwachen „für sich“ – inmitten des Prozesses der Nationsbildung befand.
Der von Klahr theoretisch geführte Nachweis der Existenz der österreichischen Nation führte wiederum zur Überlegung der Verknüpfung des Kampfes gegen den Faschismus im Inneren mit der Verteidigung gegen die Gefahr einer nationalen Vergewaltigung durch den deutschen Faschismus – zum Kampf um eine freies, demokratisches und unabhängiges Österreich als gleichzeitiger Etappe zur sozialistischen Revolution. Ein Problemkomplex der heute, achteinhalb Jahrzehnte später, in seiner (beileibe nicht nur damaligen) politischen Brisanz dem kollektiven Bewusstsein nicht mehr so ohne weiteres durchsichtig ist.
Noch im Konzentrationslager Auschwitz wurde seine Arbeit Zur nationalen Frage in winzig kleiner Schrift in mehreren Exemplaren abgeschrieben und herumgeschmuggelt – um insbesondere auch die deutschen Kommunisten und Widerstandskämpfer von ihrer Bedeutung für die künftige politische Gestaltung der Verhältnisse zu überzeugen. Und es waren heftige, kontroverse Diskussion, die Klahr sogar zur sichtlich von geradezu tiefer Verbitterung über das Unverständnis der nationalen Frage gekennzeichneten Bemerkungen kommen ließ, dass einzelne Vertreter der KPD in dieser Frage in das Schlepptau der Faschisten geraten seien.
Als theoretisch seinerseits Erster (die Frage der Einordnung der lange Zeit de facto unbekannten diesbezüglichen Schriften Hikmet Kıvılcımlıs kann hier ruhig unberücksichtigt bleiben) und einer der wenigen vollzog auch Ibrahim Kaypakkaya in der Türkei einen nicht minder grundlegenden, wenn auch anders gelagerten, Bruch mit den herkömmlichen Ansichten der KommunistInnen, Revolutionären und der Linken in der nationalen Frage am Bosporus.
In rigorosem Bruch mit dem Kemalismus und dessen aggressiv-nationalistischem Staatsdogma trat er als erster wirkmächtig und traditionsbildend für das uneingeschränkte Selbstbestimmungsrecht der von ihm nicht mehr nur als Minderheit sondern als Nation bestimmten KurdInnen – bis hin zu ihrem Recht auf staatliche Lostrennung – ein. Die bis dahin, wenn überhaupt, als sogenannte „Osten-Frage“ (doğu meselesi) behandelte Unterentwicklung des Ostens bzw. der östlichen Gebiete der Türkei, wurde damit neu als kurdische Frage aufgeworfen.
In seinen kritischen Analysen zum Charakter des Kemalismus stützte er sich dabei nicht zuletzt auf die Broschüre des sowjetischen Wissenschaftlers A. Schnurow „Das Proletariat in der Türkei“ von 1929, die 1970 auch auf Türkisch erschienen war.
„Die marxistisch-leninistische Bewegung“, so Kaypakkaya, „erkennt jederzeit und bedingungslos das Selbstbestimmungsrecht der, von der türkischen Bourgeoisie und den Grundherren unterdrückten kurdischen Nation, d.h. das Recht auf Lostrennung und Bildung eines unabhängigen Staates an und verteidigt es. Die marxistisch-leninistische Bewegung ist auch in der Frage der Bildung eines Staates gegen jedes Privileg. Die grundlegendsten Prinzipien der Volksdemokratie erfordern dies. Auch die bisher beispiellose nationale Unterdrückung der nationalen Minderheiten in der Türkei durch die türkische Bourgeoisie und Grundherren erfordern dies, denn wenn die türkischen Arbeiter und Werktätigen den türkischen Nationalismus nicht zerstören, wird für sie die Befreiung unmöglich sein“, wie Ibrahim Kaypakkaya in der Tradition Lenins ausführte.
Dieser Standpunkt gegen das bloße Zugeständnis kultureller und demokratischer Rechte oder Vorschlägen einer „national-kulturellen Autonomie“ (wie sie historisch am vielleicht prominentesten vom Austromarxismus gegen den Leninismus vertreten wurden), unterscheidet die Tradition Kapakkayas denn auch grundlegend von anderen Strömungen der türkischen ArbeiterInnenbewegung und Linken.
Dementsprechend besteht ein in der von ihm gegründeten Strömung und nachfolgenden Tradition ein diese auszeichnendes Charakteristikum auch in deren bedingungslosen Eintreten für das Selbstbestimmungsrecht der kurdischen Nation. Entsprechend führen deren bewaffnete Arme, nach wechselvollen Beziehungen, seit Langem auch gemeinsame Operationen mit den Einheiten der PKK durch und kämpften die letzten Jahre in Rojava etwa Seite an Seite mit der YPG und YPJ gegen die Mörderbanden des „IS“, oder an der Verteidigung Serêkaniyês, bzw. in den Medya-Verteidigungsgebieten als kommunistische Verbündete an der Seite der PKK gegen die türkischen Militäroperationen und Invasionen.
So urteilte der türkische Geheimdienst MIT bereits zu Anfängen des Kampfes der neuen, jungen Strömung und Guerilla: „Im kommunistischen Kampf in der Türkei sind jetzt die gefährlichsten Ideen im Volk diejenigen von İbrahim Kaypakkaya. Wir können aufgrund der Ansichten, die in seinen Schriften dargelegt sind und den Methoden des Kampfes, ohne Scheu von der Anwendung des revolutionären Kommunismus auf die Türkei reden.“
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