W.I. Lenin stellt in seiner Schrift „Über Streiks“ von 1899 heraus, dass der Streik ein Mittel im Kampf des Proletariats für seine Befreiung ist. Diese Lehre gilt auch heute noch und wird heute viel zu wenig beachtet:
W.I. Lenin:
ÜBER STREIKS
Ende 1899
Arbeiterstreiks sind in Rußland in den letzten Jahren außerordentlich häufig geworden. Es gibt kein einziges industrielles Gouvernement mehr, wo nicht mehrere Streiks stattgefunden hätten. Und in den Großstädten hören die Streiks überhaupt nicht mehr auf. Es ist deshalb begreiflich, daß sich sowohl die klassenbewußten Arbeiter als auch die Sozialisten immer häufiger mit der Frage beschäftigen, welche Bedeutung haben die Streiks, welches sind die Methoden zur Führung von Streiks, und welche Aufgaben haben die Sozialisten bei der Teilnahme an Streiks. Wir wollen versuchen, einige unserer Erwägungen zu diesen Fragen darzulegen. Im ersten Artikel wollen wir über die Bedeutung der Streiks in der Arbeiterbewegung überhaupt sprechen; im zweiten Artikel über die russischen Antistreikgesetze, im dritten über die Frage, wie die Streiks in Rußland geführt wurden und geführt werden und welche Stellung die klassenbewußten Arbeiter zu ihnen einnehmen müssen.
I
Vor allem ist die Frage aufzuwerfen, wodurch sich der Ausbruch und die Ausbreitung der Streiks erklärt. Jeder, der sich all die Streiks, die ihm aus persönlicher Erfahrung, aus Berichten anderer oder aus Zeitungen bekannt sind, in die Erinnerung zurückruft, wird sofort erkennen, daß Streiks dort ausbrechen und sich ausbreiten, wo große Fabriken entstehen und sich ausbreiten. Unter den größeren Fabriken, die mehrere Hunderte (zuweilen auch Tausende) von Arbeitern beschäftigen, wird sich kaum eine finden, in der es noch keine Arbeiterstreiks gegeben hätte. Als es in Rußland wenig große Fabriken und Werke gab, gab es auch wenig Streiks, seitdem aber die großen Fabriken sowohl in den alten Fabrikorten als auch in den neuen Fabrikstädten und Ortschaften rasch wachsen — seitdem werden die Streiks immer häufiger.
Wie kommt es, daß fabrikmäßige Großproduktion stets zu Streiks führt? Dies kommt daher, daß der Kapitalismus notwendigerweise zum Kampf der Arbeiter gegen die Unternehmer führt, und wenn die Produktion zur Großproduktion wird, so wird dieser Kampf notwendigerweise zum Streikkampf.
Wir wollen das erläutern.
Kapitalismus heißt eine Gesellschaftsordnung, in der der Grund und Boden, die Fabriken, die Maschinen und Werkzeuge usw. einer kleinen Anzahl von Grundbesitzern und Kapitalisten gehören, während die Masse des Volkes kein oder doch fast kein Eigentum besitzt und sich deshalb als Lohnarbeiter verdingen muß. Die Grundbesitzer und Fabrikanten stellen Arbeiter ein und lassen von ihnen diese oder jene Erzeugnisse herstellen, die sie dann auf dem Markt verkaufen. Dabei zahlen die Fabrikanten den Arbeitern so wenig Lohn, daß die Arbeiter mit ihren Familien kaum ihr Leben fristen können, während der Fabrikant alles, was der Arbeiter über diese Produktenmenge hinaus erzeugt, in seine Tasche steckt; dies bildet seinen Profit. In der kapitalistischen Wirtschaft arbeitet somit die Masse des Volkes für Lohn bei anderen Leuten, sie arbeitet nicht für sich selbst, sondern gegen Bezahlung für die Unternehmer. Es ist klar, daß die Unternehmer stets bestrebt sind, den Lohn zu senken: je weniger sie den Arbeitern geben, desto mehr Profit verbleibt ihnen. Die Arbeiter dagegen sind bestrebt, einen möglichst hohen Lohn zu erhalten, um die ganze Familie mit ausreichender und gesunder Nahrung versorgen, in einer guten Wohnung leben, sich nicht wie Bettler, sondern so wie alle anderen Menschen kleiden zu können. Somit wird zwischen Unternehmern und Arbeitern ein ständiger Kampf um den Arbeitslohn geführt: Der Unternehmer hat die Freiheit, sich den Arbeiter, den er einstellen will, nach Belieben zu wählen, und deshalb sucht er stets den billigsten. Der Arbeiter hat die Freiheit, sich den Unternehmer, von dem er sich einstellen lassen will, nach Belieben zu wählen, und er sucht sich den aus, der am meisten bietet, der ihn möglichst hoch bezahlt. Ob der Arbeiter auf dem Lande oder in der Stadt arbeitet, ob er sich an einen Gutsbesitzer oder an einen reichen Bauern, an einen Bauunternehmer oder an einen Fabrikanten verdingt — er handelt stets mit dem Lohnherrn, führt mit ihm stets einen Kampf um den Lohn.