Im Oktober diesen Jahres jährt sich der Hamburger Aufstand zum 100. Mal. Grund genug, um sich die historischen Umstände und die Lehren dieses Aufstandes der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) gegen den kapitalistischen Staat im Hamburg des Jahres 1923 genauer anzusehen. Der Hamburger Aufstand (vom 23. Oktober 1923) markiert den Schlusspunkt der revolutionären Nachkriegskrise, die mit der deutschen Novemberrevolution 1918 begann. Ernst Thälmann schreibt dazu am 10. Jahrestag der Novemberrevolution:
„Die Tragödie der deutschen Revolution im Jahre 1918, in den Januarkämpfen 1919, in den Kämpfen gegen den Kapp-Putsch 1920, den Märzkämpfen 1921, bis zur letzten Welle der akuten revolutionären Situation, dieser ersten Periode, im Oktober 1923 – sie bestand aus dem Zwiespalt zwischen den objektiven ausgereiften revolutionären Verhältnissen einerseits und der subjektiven Schwäche des deutschen Proletariats, hervorgerufen durch das Fehlen einer zielklaren bolschewistischen Partei andererseits.“ (Ernst Thälmann, 9. November 1918 – die Geburtsstunde der deutschen Revolution. In: Reden und Aufsätze zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Band 2, Berlin/DDR, 1953, S. 13)
Im Artikel „Lehren des Hamburger Aufstandes“ schreibt Ernst Thälmann (In: Reden und Aufsätze der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung Band 1, Berlin/DDR, 1953, S. 254-264):
Ernst Thälmann:
Die Lehren des Hamburger Aufstandes
Heute vor zwei Jahren, am 23. Oktober 1923, stieg Hamburg auf die Barrikaden. Getrieben vom Elend der Inflationszeit, gedrängt von der unerhörten Not der werktätigen Massen, getragen vom Geiste des Bolschewismus griff der beste, revolutionärste Teil der Hamburger Arbeiterschaft zum Gewehr und nahm den Kampf gegen die kapitalistischen Unterdrücker auf.
Zwei Jahre sind seit dem 23.Oktober 1923 vergangen. Vieles hat sich inzwischen in Deutschland und in der ganzen Welt geändert. Wir, die Kommunisten, sind geschlagen worden und mit uns die ganze deutsche Arbeiterklasse. Die Stabilisierung des bürgerlichen Deutschlands ist in gewissem, begrenztem Umfange gelungen. Die Bourgeoisie schöpft neue Hoffnung. Das Proletariat durchlebte ein Jahr der Entmutigung und des Rückzuges. Wenn wir heute der zweijährigen Wiederkehr des Hamburger Straßenkampfes gedenken, so geschieht das nicht aus dem bloßen Anlaß, daß der Kalendertag des 23. Oktober wiederkehrt. Jubiläen sind für die Kommunisten und den klassenbewußten Teil des Proletariats nicht leere Gedenktage, sondern Richtlinien für den Klassenkampf, Leitfäden für die Aktion. Gerade die politische Situation, in der wir heute stehen, fordert mit gebieterischem Zwang von uns, daß wir die geschichtliche Bedeutung und die Lehren des Hamburger Aufstandes vollkommen klar erkennen.
Was waren die Ursachen des Hamburger Kampfes? War es nur die Agitation der Kommunisten, waren es die Beschlüsse illegaler Geheimorgane, wie die bürgerlichen Gerichte behaupten? Nein! Die Ursachen liegen tiefer. Der Aufstand entsprang weder dem blinden Zufall noch dem freien Willen von ein paar Verschwörern. Der Hamburger Aufstand entsprang der revolutionären Situation vom Herbst 1923.
Der Herbst 1923 brachte die tiefste, ganz Deutschland umfassende, alle Schichten und Klassen der Bevölkerung ergreifende Krise der Bourgeoisie. Der Ententeimperialismus hatte seine Zerstörungsarbeit vollendet. Der zehn Monate lange Ruhrkrieg war für die deutsche Bourgeoisie verloren. Die Markwährung, die beim Regierungsantritt des Reichskanzlers Cuno auf 8000 stand, stieg später auf eine Billion. Die Arbeiter konnten für ihre Löhne nichts mehr kaufen. Sogar „die treuesten Diener des Staates”, die Beamten, begannen zu rebellieren. Die Mittelschichten waren ruiniert. Das Gespenst des Hungers schritt durch Deutschland.
Machtlos standen die Regierungen der Bourgeoisie dem Zerfall gegenüber. Stresemann, der damalige Reichsaußenminister, erklärte nach dem Cuno-Streik, „daß seine Regierung die letzte bürgerliche Regierung in Deutschland sein werde”.
Bereits im Frühjahr 1923 begannen riesenhafte Streikbewegungen im Ruhrgebiet und in Oberschlesien., neue Wellen des Klassenkampfes rollten in ganz Deutschland heran. Die Arbeiter kämpften noch nicht um die Macht, sondern nur um die dringendsten Tagesforderungen, um die Beseitigung der brennendsten Not. Der Kampf vollzog sich noch vorwiegend in „friedlichen” Formen. Während die rechten Sozialdemokraten, die Sollmann und Severing, bereits im Bunde mit den Reichswehrgeneralen und den Polizeipräsidenten zur blutigen Niederschlagung des Proletariats rüsteten, setzten die „linken” Sozialdemokraten alles daran, die Arbeiterschaft wehrlos zu machen, sie am Machtkampf zu hindern, sie mit Phrasen abzuspeisen, sie auf die „friedlichen”, parlamentarischen Kampfformen der Vorkriegszeit zurückzudrängen. Aber die Logik von fünf Revolutionsjahren war stärker als die Schurkerei der rechten und die Feigheit der „linken” sozialdemokratischen Führer.
Vom Moment des Sturzes der Cuno-Regierung an sprang der Funke des Bürgerkrieges durch Deutschland. Schon vorher war an der Ruhr, in Hannover, in Oberschlesien, in Bayern und anderen Teilen Deutschlands geschossen worden. Jetzt wurde es mit jedem Augenblick klarer, daß eine friedliche Entscheidung nicht mehr möglich war. Der erbarmungslose, gewaltsame Kampf zwischen Klasse und Klasse wurde unvermeidlich. Aus den Streiks wurden Zusammenstöße, aus den Kundgebungen wurden blutige Kleinkämpfe zwischen Arbeitern und Polizei in Dutzenden deutscher Städte. Es kam der Augenblick, in dem sich zeigte, wie Lenin in seinen „Lehren des Moskauer Aufstandes” im Jahre 1906 sagte: „…daß sich der Generalstreik als selbständige und Hauptkampfform überlebt hat, daß die Bewegung mit elementarer, unwiderstehlicher Kraft diesen engen Rahmen durchbricht und eine höhere Kampfform, den Aufstand, gebiert” [W. I. Lenin, Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Bd. I, Dietz Verlag, Berlin 1954, S. 544. Die Red.] Diesem Augenblick näherten wir uns im Oktober 1923 mit unheimlicher Schnelligkeit. Eine unmittelbar revolutionäre Situation war vorhanden. Alle Bedingungen für den Sieg der Arbeiterklasse waren da, außer einer einzigen: dem Bestehen einer klaren, eisern zusammengeschlossenen, unauflöslich mit den breitesten Massen verbundenen kommunistischen Partei, die entschlossen und fähig war, den spontanen Kampf der Arbeitermassen zusammenzufassen, ihn zu organisieren, ihn zu leiten.
Die Führung unserer Partei versagte in der entscheidenden Stunde. Der Eintritt führender Kommunisten gemeinsam mit den „linken” Sozialdemokraten in die sächsische Regierung war nur dann richtig, wenn dieser Schritt einem einzigen Ziel diente: der Organisierung der Revolution, der Bewegung der Massen, der Aufnahme des Kampfes in ganz Deutschland. Gerade dieses Ziel verlor die damalige Leitung unserer Partei aus den Augen. Unsere Führer benutzten ihre Stellung in der sächsischen Regierung nicht zur Entfesselung, sondern zur Vermeidung des Kampfes. Koalitionspolitik war es nicht, daß sie in die sächsische Regierung eintraten, sondern daß sie sich in dieser Regierung übertölpeln und führen ließen, anstatt die Arbeitermassen in den Kampf gegen die Reichsregierung zu führen.
Sie vergaßen, daß die Bewegung „in eine höhere Kampfform“ übergehen mußte. Sie beschränkten sich auf den „engen Rahmen”, ja sie versuchten sogar, den engen Rahmen der wirtschaftlichen und politischen Teilkämpfe noch „enger” zu spannen. Sie gaben den Auftrag, bestehende Streikbewegungen abzubrechen, da „der entscheidende Kampf bevorstehe”.
Unsere Partei als Ganzes war noch viel zu unreif, um diese Fehler der Führung zu verhindern. So scheiterte im Herbst 1923 die Revolution am Fehlen einer ihrer wichtigsten Voraussetzungen: dem Bestehen einer bolschewistischen Partei.
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