Die Siebente gesamtrussische Konferenz der SDAPR(B) (Aprilkonferenz) fand vom 24. bis 29. April (7. bis 12. Mai) 1917 in Petrograd statt. An der Konferenz nahmen 133 Delegierte mit beschließender und 18 mit beratender Stimme teil, die 80 000 Parteimitglieder vertraten. Es war die erste legale Konferenz der Bolschewiki, die ihrer Bedeutung nach einem Parteitag gleichkam.
Lenin hielt Referate und Reden zu allen Hauptfragen der Tagesordnung. Die Konferenz nahm die Leninschen Entwürfe der Resolutionen über den Krieg, über die Stellung zur Provisorischen Regierung, über die politische Lage, über eine Revision des Parteiprogramms, zur Agrarfrage, über die Vereinigung der Internationalisten gegen den kleinbürgerlichen Block der Vaterlandsverteidiger, über die Sowjets, zur nationalen Frage und zu dem Vorschlag von Borgbjerg an.
Das Referat zur nationalen Frage hielt Stalin. Lenin entlarvte die kapitulantenhafte menschewistische Position Kamenews und Rykows, die in der Konferenz gegen die sozialistische Revolution auftraten; er unterzog die Ansichten Pjatakows, der sich gegen die Politik der Partei in der nationalen Frage wandte und bereits während des Krieges gemeinsam mit Bucharin eine nationalchauvinistische Haltung eingenommen hatte, einer vernichtenden Kritik. Pjatakow und Bucharin waren gegen das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung. Lenin verurteilte entschieden das Auftreten Sinowjews, der sich für die Zusammenarbeit der Bolschewiki mit den Zimmerwaldern und gegen die Organisierung einer neuen, einer Kommunistischen Internationale aussprach. Die Aprilkonferenz legte ihrer Arbeit Lenins Aprilthesen zugrunde. Sie bestimmte die Linie der Partei in allen Grundfragen der Revolution und orientierte die Partei auf den Kampf um das Hinüberwachsen der bürgerlich-demokratischen Revolution in die sozialistische. Nachfolgend wird die Rede Lenins zur nationalen Frage abgedruckt, das auch heute noch in Bezug auf den Kampf der Kommunisten gegen den nationalen Chauvinismus der Großrussen große Bedeutung hat:
W.I. Lenin:
Rede zur nationalen Frage
29 April 1917
Seit dem Jahre 1903,als unsere Partei ihr Programm angenommen hat, sind wir immer wieder auf die erbitterte Opposition der polnischen Genossen gestoßen. Wenn Sie die Protokolle des II. Parteitags studieren, so werden Sie sehen, daß die polnischen Sozialdemokraten schon damals dieselben Argumente ins Feld führten, mit denen wir es jetzt zu tun haben; sie verließen diesen Parteitag, weil sie fanden, daß die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen für sie unannehmbar sei. Und seither stoßen wir immer wieder auf ein und dieselbe Frage. Im Jahre 1903 gab es den Imperialismus bereits, jedoch figurierte er damals nicht unter den Argumenten; heute wie damals ist die Stellung der polnischen Sozialdemokratie ein merkwürdiger, ungeheuerlicher Fehler: diese Leute wollen die Position unserer Partei auf die Position von Chauvinisten hinabzerren.
Die Politik Polens ist infolge der langjährigen Knechtung durch Rußland eine durchaus nationale, und das ganze polnische Volk ist von dem einzigen Gedanken durchdrungen, sich an den Moskowitern zu rächen. Niemand hat die Polen so unterdrückt wie das russische Volk. Die Zaren machten das russische Volk zu Henkern der polnischen Freiheit. Es gibt kein Volk, das Rußland so sehr haßt, es gibt kein Volk, das Rußland so wenig liebt wie die Polen, und das führt zu einer seltsamen Erscheinung. Polen ist wegen der polnischen Bourgeoisie ein Hemmschuh für die sozialistische Bewegung. Mag die ganze Welt in Flammen aufgehen – wenn nur Polen frei wäre. Natürlich ist eine solche Fragestellung ein Hohn auf den Internationalismus. Wohl herrscht über Polen jetzt die Gewalt; daß jedoch die polnischen Nationalisten auf die Befreiung Polens durch Rußland rechnen könnten – das ist Verrat an der Internationale. Die polnischen Nationalisten aber haben das polnische Volk so mit ihren Ansichten infiziert, daß man die Dinge dort eben so betrachtet.
Das gewaltige geschichtliche Verdienst der polnischen sozialdemokratischen Genossen ist, daß sie die Losung des Internationalismus aufstellten und sagten: Das Wichtigste für uns ist das brüderliche Bündnis mit dem Proletariat aller anderen Länder, und wir werden uns nie auf einen Krieg für die Befreiung Polens einlassen. Das ist ihr Verdienst, und darum haben wir immer nur diese Genossen von der polnischen Sozialdemokratie für Sozialisten gehalten. Die anderen sind Patrioten, polnische Plechanows. Aber infolge dieser eigentümlichen Lage, wo man, um den Sozialismus zu retten, gegen einen tollen, krankhaften Nationalismus kämpfen mußte, kam es zu einer seltsamen Erscheinung: die Genossen kommen zu uns und sagen uns, daß wir auf die Freiheit Polens, auf seine Lostrennung verzichten sollen.
Warum sollen wir Großrussen, die wir mehr Nationen unterdrücken als irgendein anderes Volk, darauf verzichten, das Recht Polens, der Ukraine, Finnlands auf Lostrennung anzuerkennen? Man empfiehlt uns, Chauvinisten ziu werden, weil wir dadurch die Stellung der Sozialdemokraten in Polen erleichtem würden. Wir erheben keinen Anspruch auf die Befreiung Polens, weil das polnische Volk zwischen zwei kampffähigen Staaten lebt. Anstatt aber zu sagen, daß die polnischen Arbeiter folgendermaßen urteilen müssen: Nur jene Sozialdemokraten bleiben Demokraten, die der Auffassung sind, daß das polnische Volk frei sein muß, denn für Chauvinisten ist in den Reihen einer sozialistischen Partei kein Platz, sagen die polnischen Sozialdemokraten: Gerade weil wir ein Bündnis mit den russischen Arbeitern für vorteilhaft halten, sind wir gegen die Lostrennung Polens. Das ist ihr gutes Recht. Aber diese Leute wollen nicht verstehen, daß man, um den Internationalismus zu stärken, nicht überall ein und dasselbe sagen darf, daß man vielmehr in Rußland für das Recht der unterdrückten Nationen auf Lostrennung eintreten, in Polen dagegen das Recht auf Vereinigung betonen muß. Die Freiheit der Vereinigung setzt die Freiheit der Lostrennung voraus. Wir Russen müssen die Freiheit der Lostrennung betonen, in Polen aber muß man die Freiheit der Vereinigung betonen.